Marilyn Repp, Mittelstand-Digital Zentrum Handel / HDE: Digitalisierung im Handel: Zwischen Erlebnis und E-Commerce

Marilyn Repp beleuchtet die rasante Evolution des Handels im Zeitalter der Digitalisierung. Sie spricht über die wachsende Bedeutung von Erlebnissen im stationären Handel, die Rolle neuer Technologien wie dem Metaverse und die Potenziale der Blockchain. Dabei betont sie die Notwendigkeit eines offenen Mindsets und der Anpassungsfähigkeit in einer sich ständig verändernden Branche.

Marilyn Repp, Mittelstand-Digital Zentrum Handel / HDE
Marilyn Repp, Mittelstand-Digital Zentrum Handel / HDE

Wie haben sich die Bedürfnisse der Verbraucher*innen im Handel in den letzten Jahren verändert und wie beeinflusst die Digitalisie-rung diese Veränderungen?
Repp: Der Handel ist immer weniger Versorger. Was die Leute von der stationären Fläche erwarten, ist Erlebnis – ein Freizeitfaktor! Dieser vom E-Commerce geleitete Effekt breitet sich seit Jahren über die verschiedenen Sortimente aus. Nun sind sogar die scheinbar „sicher stationär-verbleibenden“ Sortimente, Schuhe und Lebensmittel online gegangen – die Quick-Commerce-Anbieter wie Flink und Gorillas haben es in der Pandemie gezeigt.

Umfragen und Studien zeigen: Jüngere Zielgruppen erwarten eine digitale Customer Journey über alle Berührungspunkte hinweg, außerdem digitale Erlebnisse. Es geht nicht mehr, dass ein Gutschein etwa nur online einlösbar ist und nicht auch stationär vor Ort. Die Kund*innen unterscheiden nicht zwischen online und stationär. Sie speichern nur ein entsprechendes Markenerlebnis ab.

Wir werden jeden Tag digitaler und die Veränderung geht immer schneller. Mithalten zu können ist also ein Mindset-Thema. Es geht um ein konstantes „Ja!“ zu Veränderungen.

Welche Rolle spielen neue Technologien wie das Metaverse und Web3 im Handel und wie könnten sie die Zukunft des Einkaufens beeinflussen?
Repp: Neue Technologien spielen eine große Rolle für den Handel, denn sie sind heute die Haupttreiber für Veränderung, – auch für Veränderungen in den Gewohnheiten. Das geht heute alles sehr schnell: Sehen Sie sich den Aufstieg neuer Plattformen oder Markt-plätze in den vergangenen Jahren an. Auch neu: Verkaufen über Social Media. Die meisten Neuerungen sind getrieben durch techno-logische Veränderungen. Daher ist die Digitalisierung auch für den Handel absolut zentral.

Metaverse ist vor allem ein Trend- und Buzzword. Trends vergehen wieder, – aber es bleibt immer etwas davon übrig. Der Handel muss immer mehr Erlebnisse und Inspirationen liefern. Hierbei können digitale Tools echte Magie entwickeln. So hat beispielsweise Globe-trotter vor zwei Jahren eine VR-Experience zu seinem 40. Jubiläum gebaut. Dabei ging es aber gerade nicht um das Darstellen von Produkten, sondern um eine atemberaubende Outdoor-Experience mit VR-Brillen. Man konnte gefährliche Wanderwege in China er-klettern, Wind und Kälte erfahren. So sehen überzeugende VR-Erfahrungen im Handel aus, die Tausende Menschen in den Laden locken. Ausschlaggebend dabei: eine Marketing-Kampagne, die darauf aufmerksam macht!

Auch spannend: der Bereich Gaming und Gamification im Handel. Immer mehr große Handelsunternehmen starten Marketing-Maßnahmen in Online-Games, die dann als sogenannte Metaverse-Projekte beschrieben werden.
Ich denke, der Begriff Metaverse ist hauptsächlich ein Hype. Was dahinter steckt, ist dagegen wirklich spannend: Blockchain und De-zentralisierung, Virtual und Augmented Reality, aber auch ein Trend namens Gamification. Damit sollten sich Unternehmen wirklich beschäftigen.

Wie kann die Blockchain-Technologie den Handel unterstützen und welche Auswirkungen hat sie auf die Sicherheit und den Umgang mit digitalen Gütern?
Repp: Die Blockchain-Technologie ermöglicht es, Daten fälschungssicher zu speichern – ohne eine zentrale Instanz, die diese Daten verwaltet und der ich vertrauen muss. Die Information wird weltweit auf vielen Rechnern gleichzeitig gespeichert – eine Fälschung wird sehr schwer. Das hat Auswirkungen auf viele Bereiche, derzeit vor allem im Finance-Bereich. Ich denke aber, dass die dezentralen Me-chanismen dahinter auch für den Handel spannend sind.

Können Sie uns Beispiele für innovative Projekte oder Initiativen im Handel nennen, die durch die Digitalisierung vorangebracht wur-den, wie zum Beispiel das NFT-Projekt eines stationären Händlers?
Repp: Mein Lieblingsbeispiel ist hier der mittelständische Verkleidungshändler Deiters aus der Nähe von Köln. Deiters hat 31 Stores und um die 700 Mitarbeitenden.

Im Zuge einer Digitalstrategie begann der Einzelhändler Anfang 2022 komplett neue Wege zu gehen, um neue Zielgruppen zu errei-chen und zu expandieren. Ziel war der Aufbau einer Deiters-Fan-Community, die mittels NFT (Non-Fungible-Token) an die Marke gebun-den wird. NFT sind digitale Güter (z. B. Bilder, Videos oder Songs), die eine Person kauft und die durch die Blockchain-Technologie abso-lut diebstahlsicher sind.

Mitte 2022 wurde dann der Dressed Ape Costume Club ins Leben gerufen. Mit dem Erwerb eines Deiters-NFT wird man Teil einer Com-munity, die seitdem stetig wächst und für das Unternehmen ungeahnte Potenziale hat. Einen Solana kostet ein solches NFT, die Kryptowährung ist in etwa 30 bis 35 Euro pro Einheit wert, je nach derzeitiger Bewertung. Der Kauf ermöglicht es dem Unternehmen, mit den Kund*innen immer wieder in Kontakt zu treten: es gibt ständig Verlosungen – für das Oktoberfest, für Festivals oder andere Partys. Außerdem erhalten die Community-Mitglieder regelmäßig Rabatte, Gutschein-Codes und können an Umfragen zum Sortiment teilnehmen oder starten diese sogar selbst.

Was für das Unternehmen Gold wert ist: die aktive Community, die sich austauscht zu Sortimentsfragen und zu den neuesten Verklei-dungstrends. Organisiert wird der Austausch über die Plattform Discord – ursprünglich ein Messenger für Gamer*innen. Die Deiters-Community fühlt sich stark zugehörig zur Marke, das merkt man auch beim Bon, der deutlich über dem normalen Durchschnitt liegt.

Wie können KI und Chatbots kleinen Händlern dabei helfen, ihre Geschäfte zu unterstützen und welche aktuellen Entwicklungen gibt es in diesem Bereich?
Repp: KI-gestützte Chatbots gibt es tatsächlich schon recht lange. Sie unterstützen vor allem Personal bei repetitiven Anfragen. „Gibt es das auch noch in Grün? Wie funktioniert die Rückgabe?“ – diese Fragen kann auch eine kluge Software beantworten. Braucht eine Kundin wirklich persönliche Beratung, so hat das Personal dafür mehr Raum. Bei dem sicher verschärfenden Personalmangel eine tolle Nachricht.

Grundsätzlich kann KI bei vielen repetitiven Aufgaben unterstützen. Es geht um Absatzprognosen, individuelle Angebote und Anspra-che, Sortiments- und Ordermanagement.

Tools, die auf Basis von Künstlicher Intelligenz (KI) funktionieren, sprießen gerade aus dem Boden. Es gibt immer mehr „fertige“ Pro-dukte – wie auch ChatGPT von OpenAI. Die müssen nicht mehr explizit für das Unternehmen programmiert werden. Für die Implemen-tierung vieler Tools ist es aber zentral, gut gepflegte Datenbanken zu haben.

Was sind die Vorteile von Live Shopping als Verkaufs- und Unterhaltungsformat und wie können Händler diese Methode nutzen, um Kunden in ihre stationären Geschäfte zu locken?
Repp: In China ist Live Shopping über Social Media einer der zentralen Absatzkanäle im Retail. Auch wenn die Pandemie Live-Shopping in Deutschland Aufschwung verliehen hat – hierzulande kommt das Thema nur langsam. Trotzdem nutzen viele große und kleinere Händler*innen das Format erfolgreich.

So haben wir im Mittelstand-Digital Zentrum Handel während der Pandemie ein Projekt mit einer Händlerin aus NRW gestartet, die immer noch wöchentlich Live Shopping Events auf Instagram und Facebook veranstaltet. Inhaberin Simona Libner hat drei Fashion-Stores und eine solide Community in den Sozialen Medien. Letzteres ist die Grundlage für Live Shopping Events, – aber auch kontinu-ierliche Arbeit. Wichtig ist: Es muss authentisch, unterhaltsam und locker sein. „Fräulein Mode und Wohnen“ verkauft dabei keine riesi-gen Mengen während der Liveshows. Allerdings kommen in den Folgetagen viele Kund*innen in den Store und fragen nach den Pro-dukten. Die Aufnahmen der Live-Shopping-Events sind immer im Kanal zu finden und reihen sich in den regelmäßigen Content ein.

Absolut zentral ist es, Live-Shopping als Entertainment und als Marketing-Maßnahme für mehr Sichtbarkeit zu sehen und nicht primär als Absatzkanal.

Welche Erfahrungen und Erkenntnisse haben Sie aus Ihrer Tätigkeit als stellvertretende Geschäftsführerin des Mittelstand-Digital Zentrums Handel gewonnen und welche kostenlosen Angebote stehen Unternehmen im Bereich der Digitalisierung zur Verfügung?
Repp: Der stationäre Handel hat harte Jahre hinter sich und ich bin ehrlich: es werden noch viele harte Jahre kommen. Aber was heißt hart eigentlich? Das heißt in diesem Fall: viele und schnelle Veränderungen. Wer das passende Mindset dazu hat, war und wird sehr erfolgreich sein. Erfolgsfaktoren sind: Offenheit für Neues und Lust auf Ausprobieren und Experimentieren. Auch wichtig: eine offene Fehlerkultur, – wo Fehler Lernprozesse sind und nicht Misserfolge.

Was der deutsche Handel braucht, ist eine Ja-Kultur. Ja zu Neuem, Ja zu Veränderungen, Ja zu Vorschlägen vom Azubi zum Testen.

Was ist Ihre Meinung zu Temu.com und dem aktuellen Trend der Deutschland erreicht, bei dem selbst große Unternehmen wie Ama-zon sich Sorgen machen? Wie könnten solche Entwicklungen den Handel verändern?
Repp: Temu ist eine chinesische Billig-Plattform. Sie erreichte in Deutschland zeitweise Platz eins der heruntergeladenen Apps. Der Erfolg ist riesig, – genauso wie der des Fast-Fashion-Anbieters Shein seit einigen Jahren, ebenfalls aus China. Die Qualität der Produk-te lässt oft zu wünschen übrig und die Lieferzeiten sind teilweise mehrere Wochen lang, da die Produkte direkt aus China geliefert werden.

Diese Plattformen sind sehr spannend, weil sie im Kern Daten-Unternehmen und nicht Händler sind. Das bedeutet: Datenanalysen auf Basis von Künstlicher Intelligenz werten die neuesten Trends etwa in den Sozialen Medien aus. Innerhalb kürzester Zeit können so passgenau Produkte bereitgestellt und angeboten werden.

Ein zweiter Punkt ist interessant: Früher waren es westliche Plattformen und Händler, die in China produzierte Ware verkauften. Nun sind es zum ersten Mal chinesische Plattformen selbst, die übers Internet direkt die Ware an die Kundschaft bringen. Garniert wird das Ganze noch durch eine Sprache, die extrem auf sehr junge Zielgruppen zugeschnitten ist: Gewinnspiele, Glücksrad und ständige Ra-batte. Die chinesischen Plattformen versprechen den nie endenden Dopamin-Kick.

Für europäisch Händler sehe ich hier vor allem einen Hebel: Mitmachen beim großen Spiel der Daten. KI kann heute blitzschnell Trends erkennen und für einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil sorgen. Damit sollte man sich beschäftigen.

Frau Repp, vielen Dank für Ihre eingehenden Ausführungen.
www.digitalzentrumhandel.de